Ein E-Mail-Gespräch
Wolfgang Straub: Warum hast du meine auf den ersten Blick vielleicht befremdliche Einladung, faschistische Ossarien und Sacrari militari zu fotografieren, angenommen?
Peter Köllerer: Neugier ist hier an erster Stelle zu nennen. Aus deinen Schilderungen wurde mir klar, dass ich im Lauf der Jahre wohl schon an einigen dieser Stätten vorbeigekommen sein musste, ohne sie jedoch wirklich gesehen zu haben. Das schien mir umso befremdlicher, als Teile meiner fotografischen Arbeiten davor immer wieder architektonische Zusammenhänge berührt haben. Diese „monumentale Unsichtbarkeit“ war es vor allem, der ich gerne nachgehen wollte. Eine Unsichtbarkeit übrigens, die sich auch in der erstaunlichen Tatsache ausdrückt, dass wir die Ersten sein würden, die das Phänomen umfassend fotografisch behandeln. Was darüber hinaus mein Interesse geweckt hat, ist der ungewöhnliche Hybridcharakter der in Frage stehenden Orte: Kirchen, Friedhöfe, Gedenkstätten, Monumente, Tempel, Ausflugsziele, Landmarks, Kunstwerke, Archive, Museen.
Wir haben unsere Fotofahrten in Udine begonnen. Was erinnerst du von dieser ersten Begegnung der Kamera mit einem Ossarium?
An meine Verwunderung über das Ausmaß, in dem dieser monumentale, recht zentral gelegene Bau aus der Welt gefallen zu sein schien, kann ich mich noch lebhaft erinnern. Auf dem Vorplatz der Kirche hatte ich stark das Gefühl, mein Hantieren mit der Kamera würde in der Sphäre des „Heiligtums“ und somit abgeschirmt von dem lebhaften Verkehr rundherum stattfinden. Eine erste, recht eindrucksvolle Erfahrung der angesprochenen Unsichtbarkeit. Im Inneren der Basilika hat mich sofort interessiert, wie die religiös und die politisch motivierten Elemente des gesamten Komplexes jeweils füreinander Kulisse waren, sich in ihrer Kulissenhaftigkeit gegenseitig verstärkten und so der gesamten Erfahrung etwas „Unechtes“ oder „Unwirkliches“ verliehen. Zudem fällt mir noch ein, dass bereits in Udine, vor allem in den neonbeleuchteten Raumfluchten der Unterkirche, bei mir die Vorstellung Platz griff, ein Labyrinth zu betreten. Die penible Ordentlichkeit eines Millimeterpapiers, mit der die Namen der unzähligen Toten auf ihren marmornen Grabplatten entlang der Wände aufgelistet waren, tat dieser Vorstellung keinen Abbruch, sondern hat sie vielmehr verstärkt.
Von Udine fuhren wir zuerst in das hinterste Friaul, einer der wenigen Spuren meines Vornamens im Italienischen folgend, nach San Volfango. In diesem abgelegenen Weiler nahe der Grenze zu Slowenien befand sich das Grab Riccardo Giustos, des allerersten italienischen Gefallenen dieses Krieges, bevor seine Gebeine in den „Tempio Ossario“ nach Udine überstellt wurden. (Der Friedhof in San Volfango mit seinem Gefallenendenkmal ist eine der wenigen erhalten gebliebenen Gedenkanlagen aus der Zeit des Weltkriegs.) Dann erreichten wir Kobarid/Caporetto in Slowenien, mit der einzigen extraterritorialen italienischen Gedenkstätte. Das Ossarium in Udine liegt mitten in der Stadt, das Sacrario militare von Caporetto auf einem Hügel oberhalb des Ortes. War für dich das Einbeziehen der Landschaft, die Inszenierung in der Umgebung, die diese pathetischen architektonischen Interventionen vollziehen, von Anfang an von fotografischem Interesse oder hat sich das über die Zeit unterschiedlich entwickelt?
Während in Udine das Bild einer unterirdischen, höhlenartigen, labyrinthisch geschlossenen Totenwelt für mich vorherrschend war, schien mir die Art und Weise, wie die Anlage in Caporetto Landschaft zum wesentlichen Teil der Erfahrung machte, von nach außen gerichteter romantischer Maßlosigkeit bestimmt. Während sich die wenigen Besucher und Besucherinnen, die in den Tiefen des „Labyrinths“ plötzlich auftauchten, bisweilen in Spukgestalten verwandelten, wurden die vereinzelten Figürchen auf den Plattformen rund um das Sacrario in den slowenischen Bergen automatisch zur Staffage in diesem Setting, das so unverkennbar darauf abzielte, die Erhabenheit der Bergwelt als Energiequelle anzuzapfen.
War es schwierig für dich, mit dem Gegensatz zwischen den engen, dunklen Krypten und dem oft monumentalen Äußeren im hellen Sonnenlicht fotografisch umzugehen?
Diese Grundmotive des Innen und Außen, Gruft-Labyrinth und Berg-Welt, waren schon in den beiden ersten Stationen exemplarisch angelegt und sollten von Anfang an eine tragende Rolle in der fotografischen Auseinandersetzung mit dem Thema spielen. Die Innenräume in ihrer meist eher düsteren, auf mehreren Ebenen über- und unterirdischen Verschachtelung ließen mich oft an die Kerkerfantasien Piranesis denken. Das Innen war leichter fotografisch zu handhaben, weil die Gefahr der Affirmation in dieser irgendwie bizarren Unterwelt weniger nahe zu liegen schien als bei den „Postkartenmotiven“ der – teilweise ja ästhetisch ansprechenden – Außenansichten der Bauwerke und der sie umgebenden Landschaften. Wobei diese Ambivalenzen für mich auch eine wesentliche Motivation für meine Teilnahme an dem Projekt darstellten. Die passende Regie der Blicke, das richtige Maß an Zurückhaltung bei gleichzeitig unvermeidlicher Interpretation des zu Sehenden zu finden, war im Fall dieser Arbeit schwieriger als in allen meinen bisherigen fotografischen Unternehmungen.
Du sprichst von notwendiger „Zurückhaltung“, von einer „Gefahr der Affirmation“. Kommt man als Fotograf der Ästhetisierung überhaupt aus? Kann man hier „entgegenwirken“?
Am Ende ist jedes Resultat fotografischer Arbeit ein Objekt ästhetischer Wahrnehmung. Mir scheint keine Vorgangsweise denkbar, die diesen Umstand völlig aufhebt. Man müsste schon ein Don Quijote sein, um, zumal in einem dokumentarischen Zusammenhang, so etwas wie ein Nicht-Bild oder eine Un-Form anzustreben. Allerdings habe ich im Zuge unsrer Unternehmung versucht, eine Reihe einander ergänzender Strategien anzuwenden, die es unwahrscheinlich machen sollten, die Ergebnisse als eine „Verherrlichung“ des Faschismus misszuverstehen: Gleich am Beginn stand die Entscheidung, das Projekt in Farbe zu fotografieren. Jeder noch so ferne Nostalgieverdacht, der in der Verwendung des Mediums selbst hätte angelegt sein können, musste vermieden werden. Neben dem Verzicht auf fotografische Retroästhetik war es mir ein Anliegen, immer wieder zufällig auftauchende Belege für eine unbeteiligte Gegenwart ins Bild zu nehmen. Das durch die Aufnahme wischende Auto, die Kindergruppe, für die der Treppenlauf am Monument den Beginn einer Brotzeit markierte, der Rennradfahrer, der nach der Behebung einer Reifenpanne wieder auf sein Rad stieg, haben in den Fotografien die Funktion, das Zeitgefüge sichtbar zu machen und den Anspruch auf Unverrückbarkeit und zeitlose Gültigkeit, den die Architekturen der Militärheiligtümer vermitteln wollen, in Frage zu stellen. (Im Fall etwa von Renovierungsarbeiten am Monument, wie in Rom, war dieser Transport in die Gegenwart der Aufnahme sogar unvermeidlich.) Eine andere – kompositorische – Maßnahme, die Vereinnahmung der Bilder durch die Motive hintan zu halten, war der weitgehende Verzicht auf eine symmetrische Ausrichtung der Fotografien. In vielen Fällen habe ich mit einer starken Weitwinkeloptik gearbeitet, da die gesteigerte Räumlichkeit, die extremen Fluchten, die dadurch entstehen, zum einen die „Gemachtheit“ der Bilder stärker sichtbar werden lassen, und zum anderen für mein Empfinden eine gewisse nervöse Beweglichkeit suggerieren (wie bei 3-D-Computerspielen mit Ego-Perspektive), die ebenfalls in Widerspruch zur breitbeinigen Frontalität der meisten untersuchten Gebäude steht.
Du kommst ursprünglich von der Bildhauerei her: Das Skulpturale spielt in deiner Fotografie eine große Rolle. Wie war es damit bei diesem Projekt bestellt?
Natürlich waren Fragen, die in der Bildhauerei gestellt werden, hier von entscheidendem Interesse. Allem voran ist das die Frage nach den Verhältnissen von Körpern und Räumen, also von Architekturkörpern zu den sie umgebenden Landschaftsräumen, von Menschenkörpern zu den Räumen der Anlagen, aber auch nach den Beziehungen zwischen den Zeichen-Räumen und den darin aufgehobenen Körpern der Gefallenen. Und insofern die Bildhauerei im Kultischen wurzelt, liegt auch hierin ein starker Bezug. Nicht zuletzt stellten zahlreiche skulpturale Interventionen wichtige Bestandteile der Ausgestaltung der Gedenkstätten dar und wurden als solche auch explizit Teil der fotografischen Auseinandersetzung.
Der für mich intensivste Augenblick unserer Fotofahrten war der Anblick der mit erstem Schnee leicht angestaubten Berge an einem Spätherbstnachmittag am Passo del Tonale, als ich, während du das Sacrario fotografiertest, in dieser verlassenen Skitourismuslandschaft spazierte und mich das Gefühl völligen Aus-der-Welt-Seins überkam. Niemand war unterwegs: die aus Westösterreich wohlbekannte Tristesse der „toten Saison“, aber mir zugleich völlig unbekannt in dieser spezifischen Stimmung zwischen den in die Jahre gekommenen Hotels und Skiliften mit diesem der Jahreszeit entsprechend fahlen, zugleich sirrenden, klaren Licht. Beklemmend war der Gedanke an die Abstrusität und Grausamkeit, hier im Adamellogebiet einen Hochgebirgskrieg zu führen. Und beklemmend war der Gedanke daran, dass ich hundert Jahre früher vielleicht auch hier hätte kämpfen müssen: Ich musste an meinen kurzen Präsenzdienst mit 18 Jahren denken, daran, dass mich eine vorzeitige Abrüstung davor bewahrt hatte, zu den „Schweren Gebirgsjägern“ zu kommen und winters mit Tourenskiern in den Bergen irgendwelche Granatwerfer herumzuschleppen. – Es gab bei unseren Fahrten immer wieder solche Augenblicke, in denen mir die massierte Beschäftigung mit Bauwerken, die teilweise für zehntausende Gefallene errichtet wurden, zusetzte. Die Betrachtung dieser endlos wirkenden Anordnungen von Grabplatten, diese massive Präsenz einer Masse an Toten führte bei mir immer wieder zu einem Grauen, ja Grausen. Denkst du, dass dir hier die zwischengeschaltete Institution der Kamera den Umgang mit dem Überdruss erleichtert hat?
Ja.