hab so vielen Dank für deinen Katalog und die damit verbundene Ehre. Er hat mir schon kostbare Tages- und sogar Nachtmomente beschert. So war ich neulich unterwegs von Wien nach Graz. Der Hauptbahnhof ist mir kurz vorgekommen wie der frühere Südbahnhof und so richtig glücklich war ich, als ich bemerkte, dass der übliche Railjet durch eine alte Garnitur ersetzt worden war, mit klemmenden Schiebetüren zu den Abteilen und kaugummiverklebten Jausen- oder Lesebrettern bei den Fenstern. Rauchen durfte man trotzdem nicht. Im Abteil wuchtete ich meinen Koffer in die Höhe, wobei ich mir die Schulter verriss, weil er plötzlich viel leichter war als angenommen, als hätte er keinen Inhalt, nicht einmal Seiten, als wäre er nur noch sein eigener Rahmen. Im Schwindel drehte sich das ganze Abteil und jede Bewegung, eingefangen und festgehalten, stapelte sich eine auf die andere, ich stand mitten in diesem sich um mehrere Achsen drehenden Gerüst und erblickte im Spiegel, wie er in alten Abteilen noch fleckiger Standard ist, kurz dein, dann aber doch mein Gesicht. Den Koffer dann doch oben auf der Ablage deponiert, setze ich mich und hole sofert deinen Katalog aus meiner Umhängetasche, deine Karte, deren Rückseite mich rührt, wärend die Vorderseite mir Fragen stellt (etwa zu welcher Art von üppigem Purismus du da unterwegs bist), fällt zu Boden. Ein hundertmal zertretener Kaugummi sieht aus wie ein Tier. Ich hebe die Karte auf und stecke sie hinten in den Katalog, den ich – beliebig, zufällig? – irgendwo aufschlage, nämlich auf der Doppelseite R/S des silent alphabet. Interessant?
Die Frau, die das fragt, bemerke ich jetzt erst auf der gegenüberliegenden Sitzbank. Sie sieht aus wie eine immer schon alte Gemüsebäurin, die ihre runzeligen Kartoffeln aus dem Laderaum ihres Caddy rausverkauft, zu einem Preis, von dem sie unmöglich ihr Auslangen finden kann. Als geübter Bahnfahrer weiß ich aber sofort, dass von dieser Reisegefährtin mehr zu erwarten ist. Oh, Verzeihung, sage ich. Grüß Gott. Sie trägt ein geblümtes Kopftuch, das sie vielleicht tausendmal gewaschen hat. Sie schiebt ihr Kinn vor. Interessant? Der Katalog eines Freundes, sage ich. Ah, sagt sie, Ihr Freund ist ein Händler. Künstler, sage ich. Er handelt also, sagt sie, mit Wirklichkeiten, Ihr Freund. Sie sind zu beneiden. Wäre das kein Traum, würde ich ihr rechtgeben, so aber halte ich ihr wortlos den Katalog hin. Salamander, sagt sie. Plattgefahrene, sage ich. Meinen Sie, zollt Ihr Freund damit ihrem Leben Tribut? Ich weiß es nicht, sage ich. Sie scheinen mir wie leergedrückte Hüllen, das Leben haben sie anderswo gelassen. Wie wenn ein Maler die ausgedrückten Tuben statt der Farben auf der Leinwand anordnen würde. Bei Lurchen verhält es sich anders als bei Menschen, sagt sie. Sie tragen ihre Seele außen und die ist auch nur dann da, wenn einer hinschaut und sie erkennt. Vielleicht, sage ich, ist das Ensemble deshalb ein Tanz.
Sie zwinkert mir zu. Stumm blättert sie im Katalog, mal vor, mal wieder zurück. Ha, sagt sie. Da muss ich an David Lynch denken. Ich denke im Traum, dass das selbst für einen Traum zu arg ist, dass die hundertjährige Gemüsebäurin David Lynch nicht nur kennt, sondern gar von sich aus auf ihn zu sprechen kommt. Nicht so sehr an Twin Peaks, sagt sie. Mehr an den Film mit dem Ohr im Gras. Blue Velvet, sage ich. Sie schenkt meiner Antwort keinerlei Aufmerksamkeit und führt stattdessen den Katalog näher an die Augen heran, dann hält sie ihn weit von sich gestreckt. Nur, sagt sie, dass die Fotos unheimlicher wirken als ein Film. Weil man die Zwischenstufen der Verwandlung, die doch einiges erklären könnten, nicht sieht.
Sie legt den Katalog neben sich auf die Bank, reibt sich die Hände und strahlt mich an. Es ist ganz klar, dass sie einen Satz von mit erwartet, ich habe keine Ahnung welchen. Ich zähle ihre verschränkten Finger, es sind elf. Ich zähle sie noch einmal. Pfui, sagt sie, zählen sie etwa meine Finger? Ich leugne natürlich und traue mich nicht mehr sie anzusehen. Ich schaue aus dem Fenster, ohne zu sehen. So, sagt sie, aussteigen. Sie hält mir den Katalog hin. Ich stecke ihn ein. Während ich mit meinem Koffer noch einmal Rahmen in die Zeit und ins Abteil mache, wundere ich mich darüber, wie kurz die Fahrt gedauert hat. Ich grüße und gehe und frage mich gar nicht, warum die Frau an der Endstation nicht aussteigt. Draußen trete ich doch noch einmal ans Fenster. Sie schreibt mit dem Fingeralphabet DANKE in meine sich spiegelnde Stirn. Ich zeige ihr (oder mir?) den Mittelfinger und schlage dabei mit den Knöcheln gegen die Scheibe. Es ist mir sofort vollkommen unverständlich, warum ich das getan habe. Schnell gehe ich vom Bahnsteig hinein. In der Halle hält die Zeit still, niemand bewegt sich mehr. Alle, die da mitten im Schritt eingefroren wurden, tragen, das sehe ich bei einigen klar, bei anderen nur aus den Augenwinkeln, die Köpfe deiner NAMEN. Sie sind gemeinsam nur Platzhalter für Verkehr, und doch, welche großzügigste, leidenschaftlichste Mühe hat sich einer gegeben, jedem und jeder Einzelnen ein Stück Identität zu sichern. Als die Zeit wieder läuft, gehe ich auf die große Schiebetüre zu. Das Glas spiegelt leicht und ich bin neugierig auf mein Gesicht, auch darauf, bei welchem Namen mich mein draußen wartender Vater nennen wird.
Ja, lieber Peter, mein erfundener Traum soll dir nur zeigen, dass ich ein paar Realitätsebenen einziehen muss, um auch nur einigermaßen ausdrücken zu können, was deine Kunst in mir hervorruft. Der Katalog ist eine schöne Sammlung deiner immensen Arbeiten geworden – ich gratuliere dir aufs Herzlichste…
…und grüße dich ganz lieb,
Roman
(Roman Marchel, 2022)